Wozu dienen Kennzahlen?

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Wir alle können jeden Tag über verschiedene Webseiten verfolgen, wie viele neue bestätigte Covid-19-Infektionen es seit gestern gibt – in unserem Land oder in anderen Ländern. Vielfach sehen wir nur, dass die Anzahl der Fälle wieder um einige Hundert oder sogar einige Tausend angestiegen ist, je nachdem, auf welches Land oder welche Region wir schauen.

Unsere Frage, welche die Erstellung dieser Webseite motiviert hat, war: Wo stehen wir überhaupt? Können wir, nachdem es in Deutschland und vielen anderen Ländern massive Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und Versammlungsfreiheit gegeben hat, nun bereits feststellen, dass sich der Anstieg der Fallzahlen verlangsamt? Woran können wir dies ablesen?

Wir glauben, dass einfache Kennzahlen bei der Einschätzung der Situation, d.h., der aktuellen Geschwindigkeit der Ausbreitung des Virus in unserem Land, helfen können.

Eine einfache Kennzahl, die vielfach genutzt wird, ist die sogenannt Verdopplungszahl. Diese gibt an, in wie vielen Tagen sich die Anzahl der bestätigten Covid-19-Infektionen verdoppelt. Diese Kennzahl ist sehr gut geeignet um das Wachstum der Fallzahlen zu beschreiben und sie ist sehr leicht interpretierbar: Wenn ich zum Beispiel weiß, dass sich die Anzahl der Fälle alle 2 Tage verdoppelt, dann kann ich in 2 Tagen die doppelte Anzahl von Fällen erwarten, in vier Tagen die vierfache Anzahl, in sechs Tagen die achtfache Zahl usw., in 20 Tagen schließlich ca. das 1000-fache der heutigen Fallzahlen. Also, eine Verdopplungszahl von 2 weist offensichtlich darauf hin, dass dem entsprechenden Land eine katastrophale Entwicklung droht, wenn sich die Geschwindigkeit der Ausbreitung des Virus nicht verlangsamt. Auch eine Verdopplungszahl von 3 ist nicht viel besser. Es dauert dann zwar rund 30 Tage bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Fallzahlen 1000-mal so hoch sind wie heute, aber auch hier droht eine katasprophale weitere Entwicklung.

Anmerkung: Umso bemerkenswerter ist es, wie lange es in manchen Staaten (einschl. Deutschland) gedauert hat, bis einschneidende Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung des Virus getroffen wurde. Zu diesem Thema siehe zum Beispiel den Artikel Coronavirus: Europa planlos. Aber unser Thema ist nicht die Rückschau, sondern ein Beitrag zu einer Standortbestimmung.

Neben der Verdopplungszahl ist aus unserer Sicht eine weitere Kennzahl von Interesse (die, nebenbei gesagt, sehr eng mit der Verdopplungszahl verknüpft ist). Hierbei handelt es sich um die Mittlere tägliche Steigerung der bestätigten Fälle. Auch dies ist eine Zahl, die sich relativ leicht interpretieren lässt: Wenn ich weiß, dass die Zahl der bestätigten Fälle sich jeden Tag um 50% erhöht (das entspricht dem Faktor 1,5), dann kann ich nach zwei Tagen das 2,25-fache der heutigen Fallzahlen erwarten und nach drei Tagen 1,5 * 1,5 * 1,5 = 3,375 mal die heutige Zahl. Nach 20 Tagen lägen wir dann bei dem 1,5^20 -fachen (1,5 hoch 20), also in etwa bei dem 3325-fachen der heutigen Zahlen.

Auch diese mittlere tägliche Steigerung der bestätigten Covid-19-Infektionen wird von einigen Medien genannt, siehe z.B. in dem Artikel Wo sich die Lage zuspitzt und wo die Maßnahmen greifen. Wir betrachten hierbei (sonst würden wir nicht von einer “mittleren” Stiegerung sprechen) die mittlere Steigerung über einige Tage, zum Beispiel über die letzten 3 Tage, 5 Tage, 7 Tage oder welchen Zeitraum auch immer. Dies erscheint sinnvoll, um etwa zufällige Einflüsse auf die Werte der einzelnen Tage etwas “auszubügeln” (wie zum Beispiel Fälle, in denen bestimmte Tests nicht abgeschlossen wurden oder die Testergebnisse an einem Tag nicht rechtzeitig gemeldet wurden).

Wir schlagen vor, dass wir uns bei der Betrachtung der mittleren täglichen Steigerung nicht nur Momentaufnahmen ansehen, also z.B. die mittlere tägliche Steigerung basierend auf den letzten 7 Tagen, sondern stets Zeitreihen, d.h., z.B. den Verlauf der Kennzahl “Mittlere tägliche Steigerung der letzten 3 Tage” im Verlauf der letzten Tage oder Wochen.

Betrachten wir zum Beispiel Italien. Der Verlauf der mittleren täglichen Steigerung der Fallzahlen (basierend jeweils auf der Betrachtung der drei letzten Tage) sieht so aus:

Diagramm 1

Wir sehen also, dass die die mittlere tägliche Steigerung der Fallzahlen sich im Verlaufe des März 2020 wesentlich verringert hat. Das bedeutet: Die getroffenen Maßnahmen der sozialen Distanzierung wirken. Es gibt weiterhin (Stand 24.03.2020) jeden Tag eine nicht unerhebliche Steigerung der Fallzahlen, aber der Anstieg hat sich abgeschwächt. Eine Aussage wie “Die Pandemie beschleunigt sich”, wie sie zuletzt in einigen Medien zu lesen war, gilt zumindest in diesem Sinne nicht – und ganz sicher nicht für Italien.

Die tägliche Steigerung der Fallzahlen in Italien ist aber weiterhin noch deutlich zu hoch. Wie sähen der Verlauf der Kennzahl “Mittlere tägliche Steigerung der Infizierten” aus, wie wir ihn uns wünschten?

Betrachten wir hierzu den Verlauf dieser Kennzahl für Süd-Korea, aus Sicht vieler – auch aus unserer – ein Vorbild für die Bekämpfung der Pandemie:

Diagramm 2

Wir sehen hier allerdings, dass die Kennzahl “Mittlere Steigerung der Fallzahlen” seit ein paar Tagen wieder steigt. Dies sieht auf der obigen Grafik vergleichsweise undramatisch aus, obwohl es in den vergangenen Tagen zum Teil mehrt als 100 neue Infizierte pro Tag gab. Dies liegt daran, dass die Kennzahl “Mittlere Steigerung der Fallzahlen” sich stets auf alle bisher infizierten bezieht. Bei über 8.000 Infizierten, die zum Teil bereits seit einiger Zeit genesen sind, führt eine Steigerung um, sagen wir, 100 Infizierte, zu keinem auf den ersten Blick erkennbaren Effekt in dem zeitlichen Verlauf der Kennzahl “Mittlere Steigerung der Fallzahlen”.

Wir schlagen aus diesem Grund eine weitere Kennzahl n/m Growth Indicator zu zwei geeignet gewählten Werten n und m vor, die wir wie folgt definieren:

Was hat es mit dieser Formel auf sich? Und wie können wir diese Zahl interpretieren?

Die Idee hierbei ist zunächst, dass wir uns nicht die Gesamtzahl der Infizierten anschauen, sondern die festgestellten Neuinfektionen (genauer: die Anzahl der positiv getesteten Fälle) in den letzten n Tagen und den letzten m Tagen und diese zueinander ins Verhältnis setzen und das Ergebnis dann geeignet “normieren”.

Wählen wir zum Beispiel n = 3 und m = 14, dann ergibt sich das Folgende:

Wir zählen für diese Parameter n und m also die Anzahl der Neuinfektionen (wir sprechen im Weiteren der Einfachheit halber von Neuinfektionen, gemeint ist jeweils die Anzahl der festgestellten Infektionen) einmal in den letzten 3 Tagen und einmal in den letzten 14 Tagen.

Nehmen wir an, in den letzten 3 Tagen gab es 1.200 Neuinfektionen und in den letzten 14 Tagen insgesamt (die letzten 3 Tage eingeschlossen) 1.400 Neuinfektionen. Das bedeutet: Ein Großteil der Anzahl der Neuinfektionen der letzten 14 Tage fand in den letzten 3 Tagen statt. Der 3/14 Growth Indicator liefert hier das Ergebnis 4,0, wie die folgende einfache Rechnung zeigt:

Wie ist diese Zahl 4,0 zu interpretieren?

Wenn die 1.400 Neuinfektionen der letzten 14 Tage mehr oder weniger gleichmäßig auf die Tage verteilt wären, hätten wir ca. 100 Neuinfektionen pro Tag. Wir hätten als eine Situation, in der die Anzahl der Neu-Infektionen von Tag zu Tag nicht wesentlich steigt oder sinkt, sondern es gäbe vielmehr nur zufällige Schwankungen um den Wert 100.

Für die letzten 3 Tage könnten wir somit mit näherungsweise 300 Neuinfektionen rechnen. Nun haben wir in unserem Beispiel jedoch 1.200 Neuinfektionen in den letzten 3 Tagen angenommen, das sind 4-mal so viele. Genau das gibt die 4, die sich in obiger Rechnung ergeben hat, an, also: Um das Wievielfache ist die Anzahl der Neuinfektionen in den letzten 3 Tagen höher, als sie es wäre, wenn wir den Mittelwert der Anzahl Neuinfektionen pro Tag basierend auf den letzten 14 Tagen zugrundelegen würden? In unserem Fall um das 4-fache.

Werte größer als 1 weisen somit darauf hin, dass die Anzahl der Neu-Infektionen pro Tag im zeitlichen Verlauf tendenziell steigt. Der Wert 1 bedeutet, dass die Anzahl der Neu-Infektionen pro Tag näherungsweise gleich bleibt und ein Wert kleiner als 1 heißt, dass die Anzahl der Neu-Infektionen pro Tag tendenziell von Tag zu Tag sinkt.

Betrachten wir nun den Verlauf des 3/14 Growth Indicators für Südkorea:

Diagramm 3

In diesem Diagramm sehen wir nun – aus unserer Sicht besser als in Diagramm 2 oben -, dass die Anzahl der Neu-Infektionen pro Tag seit dem 18. März wieder tendenziell steigt. Wenn dieser Wert wieder über 1 steigen und wieder deutlich oberhalb des Werts 1 verlaufen sollte, würde dies bedeuten, dass eine neue Welle von Infektionen beginnen könnte. Der 3/14 Growth Indicator würde, wenn dies der Fall wäre, früher auf einen solchen Sachverhalt hinweisen, als die Betrachtung der mittleren täglichen Steigerung.

Fazit: Kennzahlen wie die Dopplungszahl sowie die beiden in diesem Beitrag genannten Kennzahlen können bei der Einschätzung helfen, wo wir bei der Bekämpfung der Pandemie stehen.

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